IP-Ausbildung

Grundkonzept der fachspezifischen Ausbildung

Individualpsychologie – oder: „Leben heißt, sich minderwertig fühlen“

Die Individualpsychologie (IP) geht mit anderen tiefenpsychologischen Schulen von der Auffassung aus, dass das Verhalten und Erleben des einzelnen in hohem Maß durch Einflüsse aus der Kindheit und ihre psychische Verarbeitung bestimmt wird. Dabei spielen unbewusste Kräfte eine maßgebliche Rolle; sie greifen in das bewusste Erleben ein und beeinflussen das beobachtbare Verhalten sowie das Weltbild. Zugrunde liegen psychische Vorgänge, die als ein Spiel antagonistischer Kräfte betrachtet werden (Psychodynamik), z. B. Konflikte zwischen Trieb und Moral, Autonomie und Bindung, Liebe und Hass, Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Gelangen die Antagonismen nicht zum Ausgleich, können psychische Krankheiten auftreten. Zugrunde liegt ein Menschenbild, das zwar bis zu einem gewissen Grad defizitorientiert und sich der tragischen Dimensionen der menschlichen Existenz bewusst ist, gleichzeitig aber um die Entwicklungsmöglichkeiten und das Ressourcenpotential des einzelnen und der Gesellschaft weiß.

Die Individualpsychologie ist, wie die Psychoanalyse Freuds, kausalanalytisch orientiert, das heißt sie blickt zurück in die Kindheit und fragt nach dem Woher, nach den Ursachen gegenwärtiger Konflikte und Defizite. Darüber hinaus ist sie finalistisch orientiert, was bedeutet, dass sie auch „nach vorn“ schaut und das Augenmerk auf den unbewussten Sinn und Zweck menschlichen Verhaltens und Erlebens richtet. So können beispielsweise Schuldgefühle kausalanalytisch verstanden werden als Folge antagonistischer Kräfte, als Folge eines Konfliktes zwischen Trieb und Moral. Fragt man darüber hinaus finalistisch nach ihrem unbewussten Zweck, dann können wir auf das Machtpotential verweisen, welches man sich zuschreibt, denn schuld sein bedeutet Ursache sein – und Ursache sein heißt, über Macht zu verfügen.

„Leben heißt, sich minderwertig fühlen“, schreibt Alfred Adler, der Begründer der IP. Ein wesentliches Element der individualpsychologischen Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie ist in diesem Sinn die Interdependenz zwischen Minderwertigkeitsgefühl und dem Streben nach sozialer Gleichwertigkeit. Das Minderwertigkeitsgefühl ist die treibende Kraft, welche das Kind motiviert, sich zu entwickeln, um in seinem späteren Leben ein gewisses Maß an Sicherheit zu erlangen. Die Art und Weise, wie das geschieht, wird als Lebensstil bezeichnet, was bedeutet, einzelne Verhaltensweisen als Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit interpretieren zu können. Dabei wird das Individuum nicht isoliert betrachtet, sondern in seinen somatischen, psychischen und soziokulturellen Dimensionen. Das bedeutet zum Beispiel, dass in der IP – seit jeher – der Psychosomatik große Beachtung geschenkt wird, dass Neurose auch bedeutet, in den sozialen Beziehungen gestört zu sein und dass gesellschaftlichen sowie kulturellen Einflüssen auf das Individuum vermehrt Achtung geschenkt wird.

Verläuft die psychische Entwicklung in halbwegs normalen Bahnen, dann gelingt die Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls auf sozial verträgliche Weise. Das Streben nach Geltung und Machtwird abgefedert, indem man gelernt hat, nicht nur die eigenen, sondern auch die Bedürfnisse und Wünsche anderer Menschen zu berücksichtigen. Mit einem etwas antiquiert anmutenden Begriff wird dieses Phänomen in der IP als „Gemeinschaftsgefühl“ bezeichnet. Wenn hingegen die Verhältnisse in der Kindheit ungünstig sind und die Eltern massive emotionale Defizite aufweisen – autoritärer Erziehungsstil, Vernachlässigung, Verzärtelung des Kindes –, dann kann es in der Folge zu psychischen Beeinträchtigungen kommen, von neurotischen Störungen bis zu ich-strukturellen Defiziten. Dann führt das Streben nach Macht und Geltung zur Überkompensation, zu stark narzisstisch getönten Verhaltensweisen, zum Streben nach Überwältigung, zu einem dichotomen Weltbild, das strikt in oben und unten einteilt, und zu Perfektionismus, der die Menschen nie zur Ruhe kommen lässt.

Individualpsychologische Therapien umfassen die ganze Bandbreite zwischen niederfrequenten Arbeitsweisen in stützend-ermutigender Form bis zu hochfrequenten, aufdeckend arbeitenden Langzeitanalysen, und zwar, je nach den spezifischen Bedürfnissen des Patienten bzw. der Patientin, im sitzenden oder liegenden Setting.

Die Lehrtherapien finden zwei- bis dreimal wöchentlich im Sessel-Couch-Setting statt mit einer Mindeststundenanzahl von 300 Einheiten. Hinzu kommt eine individualpsychologische Gruppenselbsterfahrung über einen Zeitraum von sechs Semestern mit insgesamt 90 Stunden, welche durch die Studiengebühren abgedeckt ist.